Darstellung Funktionstheorie

Schwierige oder kniffelige Probleme, Feinheiten des Notensatzes etc.
Hans Josef
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Beitrag von Hans Josef »

@Peter: Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich kein Literaturbeispiel parat habe. Denke aber, dass man in der Spätromantik durchaus fündig wird. Wie wäre es Deine und meine Studenten darauf anzusetzen ein Beispiel zu suchen? :)

Ich bin ehrlich gesagt kein Freund von Vermischungen von Funktionstherorie und Stufentheorie, wie D2 oder dergleichen, auch wenn es bei Schönberg nachzulesen ist. Funktionen und Stufen hintereinander finde ich schon sinnvoll, wie Dein Paradebeispiel mit den Trugschlüssen (V., VI. Stufe).
Den Neapolitaner gibt es übrigens nicht! Oder sind das die Bewohner von Neapel oder so? Es gibt eigentlich nur den neapolitanischen Sextakkord oder den verselbstständigten Neapolitaner.
HJ
Martin Gieseking
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Beitrag von Martin Gieseking »

Ich habe auch noch etwas rumgesucht, bisher die von Hans Josef gepostete Kadenz aber in keiner Komposition finden können. Sie wird allerdings in den Harmonielehren von Maler und Amon als typisches Beispiel für den S6</5 genannt. Häufiger scheint die Wendung T - S6</5 - T vorzukommen, z.B. in Griegs Scherzo-Impromptu (s. Anhang).

Im Schönberg konnte ich keine Stelle finden, an der er die Schreibweise DDü6/5 oder D2 verwendet. Alle Notenbeispiele sind ausschließlich mit Stufenbezeichnern versehen. Er nennt die Akkorde natürlich übermäßiger Quintsextakkord oder Sekundakkord und spricht von Dominanten, verwendet aber nirgends Funktionssymbole. Dass die Bezeichnung DDü6/5 auf Schönberg zurückgeht, kann ich zumindest anhand seiner Harmonielehre nicht nachvollziehen. Ich halte sie immer noch für ungeschickt und aufgrund der inkonsistenten Bezifferung besonders im Unterrichtskontext für didaktisch fragwürdig.
Hans Josef hat geschrieben:Es gibt eigentlich nur den neapolitanischen Sextakkord oder den verselbstständigten Neapolitaner.
Hm, wenn es einen verselbstständigten Neapolitaner gibt, gibt es doch auch den nicht-verselbstständigten, oder? Ersterer ist ja auch kein unabhängiger Süditaliener. In der Literatur findet man jedenfalls alle möglichen Namen: neapolitanischer Sextakkord, neapolitanischer Akkord, Neapolitaner, neapolitanischer Sextwechselklang,...
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Tausig
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Beitrag von Tausig »

Wenn der Neapolitaner ein Bewohner Neapels ist, dann ist der verselbständigte Neapolitaner eben ein Bewohner Neapels, der sich selbständig gemacht hat. Der nicht verselbständigte Neapolitaner ist dann einer, der Angestellter geblieben ist.
Sprache, lieber Hans Josef, ist nie ganz korrekt und nie bis ins Letzte logisch. Deine Behauptung, daß der neapolitanische Sextakkord nicht "Neapolitaner" genannt werden sollte, der verselbständigte neapolitanische Akkord aber sehr wohl, entbehrt auch jeder Konsistenz, und der Sprachgebrauch ist ein anderer. Jedenfalls kenne ich folgenden Witz immer nur so:
"Wie heißt der Neapolitaner in Des-dur?".
"Aber Des-dur ist doch der Neapolitaner!"
(Im Keller rasselt die Bartwickelmaschine...)
Recht hast du natürlich, daß es keinen verselbständigten neapolitanischen Sextakkord gibt, weil, wenn er ein Sextakkord wäre, wäre er ja nicht mehr verselbständigt. Ich nehme an, daß du das sagen wolltest?
Das Wort "verselbstständigt" übrigens ist auch eher ungewöhnlich.
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Hans Josef
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Beitrag von Hans Josef »

Hallo Tausig,
ein verselbstständigter Neapolitaner ist darüber definiert, dass sich die tiefalterierte Subdominant-Sexte (=neapolitanische Sexte) verselbstständigt (= in den Bass wandert). Es ist vielleicht ein bisschen spitzfindig, aber neapolitanischer Sextakkord ist einfach der aussagekräftigere Begriff für den Sachverhalt. Ich würde "Neapolitaner" als umgangssprachliche Wendung für den neapolitanischen Sextakkord durchgehen lassen. Aber ich möchte jetzt auch nicht zum "Erbsenzähler" werden...
Hallo Martin,
leider kann ich den Anhang nicht finden. Das Grieg-Beispiel würde mich interessieren.
Ahhh, jetzt sehe ich es!
Gruss,
Hans Josef
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Peter A.
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Beitrag von Peter A. »

Grieg ist ein interessantes Beispiel, Danke!

Richtig, Schönberg sagt nur, aber schreibt nicht Dü5/6, er schreibt ja sowieso Stufen.

Die Schreibweise finde ich wie gesagt aber sowieso zweitrangig - entscheidend ist die Funktion in der Komposition. ü5/6 ist aber ein eingebürgerter Kurzbegriff, ähnl. wie Neapolitaner, den man so durchaus unter Musikern verwenden kann. Sowas sollten auch Studenten wissen.
Gruß, Peter
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Tausig
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Beitrag von Tausig »

Hans Josef, nein, wir müssen nicht Erbsen zählen. Würd auch gar nix nützen, weil jeder Musikstudent kurz "Neapolitaner" und seltener umständlich "neapolitanischer Sextakkord" sagt. Unter Musikern ist die Kurzform die Regel, die umständliche Korrektheit die Ausnahme. Und bitte nicht vergessen: Als der Begriff hier auftauchte, war es ein Wort in einem Post von Musiker zu Musiker, und keine Lexikon-Formulierung, deren enzyklopädische Korrektheit man einfordern müßte.

Nett, daß du mir jetzt erklären willst, was der verselbständigte sN ist. Wär aber nicht nötig gewesen. Und selbst Wikipedia (sicher keine Referenz, aber so mancher Artikel ist ja doch von verständigen Leuten geschrieben), schreibt "verselbständigt" nicht mit "stst" (Maler auch nicht):
http://de.wikipedia.org/wiki/Neapolitan ... Sextakkord
Aber wir wollen ja nicht Erbsen zählen und schon gar nicht "st"s.
Korrekt ist der Wikipedia-Artikel allerdings nicht, behauptet er doch, der sN würde SN geschrieben, und verwechselt "verselbständigt" mit "modulierend umdeutend". Ich würde für den sN nun gerade ein Beispiel anführen, wo er modellhaft in Reinkultur nicht modulierend auftaucht, nämlich in Chopins op. 28, c-moll.

Egal, ob der eine Neapolitaner sagt, wo er den Sextakkord meint und nicht den Bewohner Neapels, oder der eine sich "verselbständigt", während der andere sich "verselbstständigt" -- Hauptsache, wir mißverstehen uns immer nicht so gut...
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Martin Gieseking
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Beitrag von Martin Gieseking »

Tausig hat geschrieben:Und selbst Wikipedia (sicher keine Referenz, aber so mancher Artikel ist ja doch von verständigen Leuten geschrieben), schreibt "verselbständigt" nicht mit "stst" (Maler auch nicht)
Das Blöde an der Rechtschreibreform ist, dass jetzt mehrere Schreibweisen möglich sind und jeder sich im Prinzip seinen eigenen Cocktail aus alter und neuer Schreibung zusammenstellen kann.
"selbstständig" und "verselbstständigen" ist jedenfalls laut Duden völlig korrekt.
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Beitrag von Hans Josef »

Tausig,
ich habe das mit dem verselbstständigten Neapolitaner nur erklärt, weil ich den Ursprung des sN deutlich machen wollte und plastisch erklären wollte, warum ich "neapolitanischer Sextakkord" zutreffender finde. Nicht um Dir eine Theoriestunde zu geben. Meine Studenten sagen übrigens nicht "Neapolitaner". :wink:
Schön, dass wir uns alle so gut verstehen. :lol:
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Tausig
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Beitrag von Tausig »

Tja, die Rechtschreibung hat sich eben weitgehend verselbstststständigt. Apropos Maler und weil hier gerade so viele Fachleute versammelt sind: Ich lese dort (12. Auflage, S. 7): "Oktaven- und Quintparallelen lassen sich durch Stimmkreuzung, die Gegenbewegung verursacht, vermeiden":
http://finaleforum.superflexible.net/fi ... he_720.gif
Hat der Maler da ein Likörchen zu viel gehabt, oder heißt die Regel tatsächlich: "Parallelen, die man hört, sind nicht schlimm. Hauptsache, man sieht sie nicht mehr..."?
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Hans Josef
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Beitrag von Hans Josef »

In der Tat ist Takt zwei vollkommen in Ordnung. Stilistisch würde sowas eher in der Zeit vor Bach vorkommen. Auf dem Klavier klingt es ziemlich "verboten", im Chorsatz oder bei Besetzungen, bei denen man die einzelnen Stimmen von der Farbe unterscheiden kann, klingt es gut.
Hans Josef
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Tausig
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Beitrag von Tausig »

"Würde" es vorkommen oder kommt es vor? Kannst du ein konkretes Beispiel möglichst mit Notenbeispiel nennen?
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Martin Gieseking
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Beitrag von Martin Gieseking »

Für einen π/4-Takt sind da aber viel zu viele Noten in deinem Beispiel. Oder gilt bei Bratschern π=8? :D
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Beitrag von Hans Josef »

Ich denke, dass ist ein Scan aus dem Maler Buch, habe es gerade auch bei mir gesehen. (14. Auflage1987) In Deiner Ausgabe ist tatsächlich aber noch ein Fehler im zweiten Takt: Die beiden C's gehen in eine Oktave F.
In meiner Ausgabe hat man noch ein paar Stimmführungs-Striche hinzugefügt.
Dann hat Maler doch ein Schnäpschen zuviel genommen...
Hans Josef
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Beitrag von Hans Josef »

Hallo Tausig,
leider habe ich keinen Scanner zur Hand. Aber ein Beispiel wäre:
"Gen Himmel aufgefahren ist" von Melchior Franck, Erster Takt von der Zwei zur Drei, C-Dur Terzlage - D-Dur Terzlage.
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Tausig
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Beitrag von Tausig »

PI ist bei Bratschern ein Sonderzeichen, das anderen Instrumentalisten nicht verraten wird (Zunftgeheimnis). Bei der "4" ist das Wurzelzeichen schwer erkennbar, ist eben ein schlechter Scan.

Die Antiparallele von c nach F-f stört klanglich eigentlich nicht. Danke fürs Melchior-Franck-Beispiel. Lieber wäre mir natürlich ein Beispiel von Bach gewesen, aber da wird man, glaube ich zumindest, vergeblich suchen. (Muß zum Dienst, habe keine Zeit mehr, jetzt zu suchen). Deswegen ist de la Mottes Betrachtungsweise, die Regeln immer in einen historischen Kontext stellt, sicherlich angemessener.

Übrigens, Hans Josef, gibt's in deinem Beispiel auch vom letzten Viertel des Auftaktes zur nächsten Eins noch so'ne optische Parallelen-Versteckerei: Alt geht von a nach e', Tenor von d' nach c' Klanglich geht d' nach e' und im Baß d nach e. Wat die damals aber auch immer geschummelt haben...
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